Amnesty Journal Deutschland 07. Dezember 2020

Verbrechen am Bildschirm aufdecken

Ein Mann hat seinen Kopf auf die Hand gestützt und blickt nachdenklich.

Menschenrechtsverletzungen im Blick: Sam Dubberley, Leiter des Evidence Labs von Amnesty

Um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken, nutzt Amnesty International auch digitale Mittel. Sam Dubberley leitet das "Evidence Lab", eine Abteilung, die darauf spezialisiert ist, Nachweise für Verstöße zu erbringen.

Interview: Carole Scheidegger

Wie sind Sie vorgegangen, als Sie zum Beispiel den Einsatz von Tränengas untersuchten?

Für die Recherche zum Tränengas haben wir zuerst die Studierenden unseres "Digital Verification Corps" hinzugezogen. Das ist ein Netzwerk aus Studierenden, die von uns angeleitet wurden, wie man Bilder überprüft, die möglicherweise Menschenrechtsverletzungen zeigen. Wir gaben ihnen eine Liste von Ländern, in denen wir Missbräuche vermuteten, und baten sie, Videos von Polizeieinsätzen zu untersuchen. Die Studierenden suchten nach Hinweisen für Menschenrechtsverletzungen, und sie fanden auch heraus, wann und wo genau ein Video gefilmt worden war, zum Beispiel an welcher Straßenecke in Santiago de Chile. Danach suchten wir weitere Quellen, die diese Informationen ergänzten. Anschließend erfolgte die Analyse: Wie genau wurde das Tränengas eingesetzt? Wurde auf den Kopf von Menschen gezielt? War der Einsatz verhältnismäßig? Wurden Leute angegriffen, die besonders verletzlich sind, was den Einsatz von Tränengas angeht? Dann klärte unser Waffenfachmann ab, welches Tränengas genau eingesetzt wurde und aus welchem Land es stammte.

Was ist das Digital Verification Corps?

Es ist ein Netzwerk, an dem sieben Universitäten an verschiedenen Orten weltweit beteiligt sind, insgesamt machen etwa 100 Studierende mit. Sie untersuchen und verifizieren für uns Videos und Fotos. Daneben gibt es noch die Decoder, die uns helfen, große Datensätze zu bearbeiten. Ihre Aufgaben sind aber einfacher, denn es geht vorwiegend um Ja/Nein-Antworten.

Die Studierenden des Digital Verification Corps sind mit grausamen Bildern konfrontiert. Was tut Amnesty zu ihrem Schutz?

Wir ermöglichen den Studierenden eine Supervision, damit sie lernen, mit diesen Bildern umzugehen. Und wir versuchen sicherzustellen, dass sie nicht zu viel Gewalt sehen. Um für uns aktiv zu sein, ist der Umgang mit Bildern von Menschenrechtsverletzungen leider notwendig. Aber wir kümmern uns um die Studierenden.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie solche Videos anschauen müssen?

Es ist nicht leicht. Aber es gehört zu meinem Beruf. Ich habe früher für das Fernsehen gearbeitet und bin deshalb seit 20 Jahren mit schlimmen Bildern konfrontiert. Ich musste lernen, wie ich damit umgehen kann. Aber es gibt immer noch Bilder, die mich erschüttern.

Wir zeigen Menschenrechtsverletzungen, die sonst nicht bekannt werden würden und die von den verantwortlichen Staaten bestritten werden.

Sam
Dubberley
Leiter des Evidence Lab von Amnesty International

Das Evidence Lab hat auch Luftangriffe im Jemen oder Polizeigewalt in den USA untersucht. Wie war da das Vorgehen?

Um die Auswirkungen von Luftangriffen im Jemen oder zum Beispiel illegale Waldrodungen in Brasilien nachzuweisen, haben wir mit Satellitenbildern gearbeitet. Wichtig ist uns auch, dass unsere Erkenntnisse leicht zugänglich sind. Unser Bericht zur Polizeigewalt in den USA enthielt zum Beispiel eine Online-Karte, auf der zu sehen ist, wo welcher Vorfall stattfand.

Videos können gefälscht werden. Wie stellen Sie sicher, dass Sie nicht auf manipuliertes Material hereinfallen? 

Derzeit ist die Technologie für Fälschungen noch nicht perfekt. Ein geübtes Auge sieht rasch, ob ein Video manipuliert wurde. Aber Amnesty International beschränkt sich nicht auf die Analyse von Videos, sondern macht weiterhin auch herkömmliche Ermittlungsarbeit, zum Beispiel in Form von Interviews. Bevor wir Informationen veröffentlichen, werden sie immer streng geprüft.

Wie macht Ihre Arbeit die Welt besser?

Wir zeigen Menschenrechtsverletzungen, die sonst nicht bekannt werden würden und die von den verantwortlichen Staaten bestritten werden. Wir haben zum Beispiel kürzlich eine Recherche zu Mosambik veröffentlicht, in der wir unter anderem mit Videos und Interviews belegen konnten, dass der Staat dort Menschenrechtsverletzungen begeht. Darüber wird sonst kaum berichtet. Im Fall von Myanmar konnten wir zeigen, dass die Menschenrechtsverletzungen dort weitergehen. Damit stoppen wir diese Vergehen zwar nicht sofort, aber wir werfen ein Licht darauf, und die Verantwortlichen wissen, dass ihnen jemand auf die Finger schaut. Nach unserer Recherche zu den "Black Lives Matter"-Protesten in den USA wurden unsere Kollegen vor Ort zu Treffen mit Entscheidungsträgern und in den Kongress eingeladen. Außerdem können unsere Ergebnisse dazu dienen, zu einem späteren Zeitpunkt Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Familien einzufordern. Nicht zuletzt tragen die vielen Studierenden, die wir ausbilden, unsere Botschaft weiter. Und Amnesty unterstützt andere Organisationen dabei, bei der Menschenrechtsarbeit zeitgenössische Technologien einzusetzen.

Sind neue Technologien eine Gefahr oder eine Chance für die Menschenrechte?

Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits führen die Online-Netzwerke zu Problemen und können einer Demokratie schaden, andererseits decken die Leute heute mit einer Kamera und einem Mobiltelefon Menschenrechtsverletzungen auf. Dank der neuen Technologien wissen wir heute über Verbrechen Bescheid, die vor 40 Jahren unbeobachtet stattgefunden hätten. Und die Technologie hilft uns, viel größere Mengen an Daten zu bearbeiten. Insgesamt überwiegen daher für mich die positiven Aspekte.

Sam Dubberley leitet das "Evidence Lab" von Amnesty International und hat das "Digital Verification Corps" aufgebaut.

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