Amnesty Report Bolivien 27. Februar 2020

Bolivien 2019

Menschenansammlung bei einer Beerdigung, links im Bild schwer bewaffnete Polizeieinheiten

Eine Reihe verheerender Waldbrände in der Region Chiquitania führte 2019 zu einer Umwelt- und Menschenrechtskrise. Menschenrechtsaktivist_innen und Verteidiger_innen der Rechte indigener Bevölkerungsgruppen wurden nach wie vor bedroht und schikaniert. Seit den Wahlen vom 20. Oktober steckt Bolivien in einer sozialen, wirtschaftlichen, politischen und menschenrechtlichen Krise. 

 

Hintergrund

Im Oktober 2019 erklärte Präsident Evo Morales inmitten von Protesten und Wahlbetrugsvorwürfen, dass er die Wahlen mit einem Abstand gewonnen habe, der die Möglichkeit einer Stichwahl mit dem Kandidaten der Opposition ausschließe. Als Reaktion auf die Proteste rief Präsident Morales den Ausnahmezustand aus. Dieser war gezeichnet von Vorwürfen exzessiver und unnötiger Gewaltanwendung durch die Nationalpolizei. Am Tag der Wahl wurde der Menschenrechtsaktivist Waldo Albarracín verletzt, als er von einem Tränengaskanister getroffen wurde. 

Am 8. November erklärte die Polizei von Sucre, Cochabamba und Santa Cruz nach tagelangen gewalttätigen Protesten, dass sie der Regierung die Unterstützung entziehe. Am 9. November schloss sich die Polizei von La Paz der Meuterei an. Am gleichen Tag forderte Präsident Morales alle politischen Kräfte zum Dialog auf, um Bolivien zu befrieden. 

Am 10. November gab die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Ergebnisse ihrer Prüfung unter Verweis auf schwerwiegende Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen bekannt und rief zu Neuwahlen auf. Am selben Tag forderten Anhänger_innen des Präsidenten diesen zum Rücktritt auf. Auch die Streitkräfte veröffentlichten eine Erklärung, in der sie einen Rücktritt des Präsidenten nahelegten, um die Befriedung des Landes zu ermöglichen. Im Laufe des Tages trat Präsident Morales zurück, und die gewaltsamen Proteste nahmen zu. 

Es gab öffentliche Berichte über Brand- und andere Angriffe auf das Eigentum von Menschenrechtsverteidiger_innen oder Journalist_innen durch eine aufgebrachte Menge von Anhänger_innen der Partei von Evo Morales Movimiento al Socialismo (MAS). So wurde das Haus des Menschenrechtsverteidigers Waldo Albarracín niedergebrannt. Auch Angriffe auf das Eigentum der Familien von Angehörigen der zurücktretenden Regierung wurden gemeldet. Die Nationalpolizei bat um Unterstützung durch die Streitkräfte zwecks Durchführung gemeinsamer Einsätze.  

Am 12. November übernahm Jeanine Añez die Interimspräsidentschaft mit dem Mandat, neue Präsidentschaftswahlen einzuberufen. Die Proteste von Anhänger_innen der MAS setzten sich fort. Am 14. November erließ die Regierung Verordnung 4078, welche die Beteiligung der Streitkräfte an "der Verteidigung der Gesellschaft und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" vorsieht und Angehörige der Streitkräfte, die an Einsätzen zur Wiederherstellung der inneren Ordnung und der öffentlichen Sicherheit teilnehmen, von der strafrechtlichen Verantwortung befreit, "wenn sie bei der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Pflichten in legitimer Weise oder aus Notwendigkeit handeln und die Grundsätze der Legalität, der absoluten Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit beachten".

Seitdem haben die Nationalpolizei und die Streitkräfte gemeinsame Einsätze zur Kontrolle von Demonstrationen durchgeführt, und es gab Vorwürfe über exzessive und unnötige Gewaltanwendung sowie Berichte über bewaffnete Protestierende. Das Institut für Rechtsmedizin hat nach eigenen Angaben Autopsien an 27 Personen durchgeführt, die zwischen dem 20. Oktober und dem 22. November 2019 bei den Protesten ums Leben gekommen sind.

Während der Krise waren mehrere Städte ohne Zugang zu Benzin oder Gas, was zu einer Verknappung der Nahrungsmittel führte. Am 24. November verkündete die Interimspräsidentin das Gesetz zur Annullierung der Wahlen vom 20. Oktober und rief zu Neuwahlen auf.

Internationale Kontrolle

Im November 2019 prüfte der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfungen die Menschenrechtslage in Bolivien. Im Juli ratifizierte Bolivien das internationale Escazú-Abkommen über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik. 

Menschenrechtsverteidiger_innen

Nach wie vor herrschte Besorgnis angesichts der Verschlechterung der Lage von Menschenrechtsverteidiger_innen. Die Behörden sowie auch Präsident Morales gaben Erklärungen ab, in denen sie die Arbeit nationaler und internationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen in Frage stellten. Die 2013 eingeführten Bestimmungen zur rechtlichen Anerkennung von NGOs, Stiftungen und anderen gemeinnützigen Einrichtungen, die in mehr als einem bolivianischen Departamento tätig sind, blieben in Kraft. Die mangelnde Klarheit der genauen Anforderungen brachte für zivilgesellschaftliche Organisationen die Gefahr mit sich, ihren Rechtsstatus zu verlieren, und hinderte sie daran, effektiv zu arbeiten.

Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen, vor allem ihr Recht auf Beteiligung an der Entscheidungsfindung in Angelegenheiten, die ihre Rechte betreffen, sind nach wie vor bedroht. Dies gilt insbesondere angesichts der Erteilung von Lizenzen für Wirtschaftsprojekte, wie z. B. der Ölförderung auf angestammtem Land, ohne ihre freie, vorherige und informierte Zustimmung einzuholen. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Ab Juli 2019 wütete in der Region Chiquitania eine Reihe von Waldbränden. Zu den Bränden kam es, nachdem Präsident Morales am 10. Juli die Oberste Verordnung Nr. 3973 erlassen hatte. Darin wird die "Landrodung für landwirtschaftliche Aktivitäten auf privatem und gemeinschaftlichem Land" und das "kontrollierte Abbrennen in Übereinstimmung mit geltenden Vorschriften" in den Provinzen Santa Cruz und Beni erlaubt. Beide Provinzen waren von den Waldbränden betroffen. Die bolivianische Regierung leitete keine Untersuchung ein, um die Ursachen der Brände und einen möglichen Zusammenhang mit der Verordnung zu ermitteln. Die Verordnung blieb in Kraft und fand Ende 2019 weiterhin Anwendung. 

Flüchtlinge und Asylsuchende

Am 17. März 2019 nahmen Angehörige von Polizei und Einwanderungsbehörde willkürlich 14 Venezolaner_innen (drei Frauen und elf Männer) in einer Unterkunft in La Paz fest. Sie hatten am 15. März an einer friedlichen Demonstration vor der kubanischen Botschaft gegen Menschenrechtsverletzungen in Venezuela teilgenommen. Sie wurden in ein Büro der Einwanderungsbehörde gebracht, verhört und der "Verschwörung" und "politischer Aktivitäten gegen Bezahlung" beschuldigt, was gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstieß. Lokalen Organisationen und Zeug_innen zufolge wurden viele von ihnen von der Polizei misshandelt und bedroht. Sechs wurden noch am selben Tag willkürlich nach Peru abgeschoben. Die übrigen acht, die Asyl beantragt hatten, wurden freigelassen. Fünf von ihnen flohen jedoch aus Angst vor einer weiteren Strafverfolgung anschließend nach Peru. Die drei, die sich Ende 2019 noch in Bolivien befanden, hatten Angst vor Verfolgung und willkürlicher Abschiebung. 

Straflosigkeit

Im April 2019 erhielt die für die Untersuchung der zwischen 1964 und 1982 begangenen Menschenrechtsverletzungen zuständige Wahrheitskommission vom Außen- und vom Justizministerium freigegebene Dokumente und historische Akten von der Plurinationalen Versammlung. Die Kommission soll 2020 einen abschließenden Bericht vorlegen.

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